"Noch normal" oder "bereits süchtig"?

Trotz zurückgehender Konsumraten bei legalen und illegalen Drogen wird der Begriff „Sucht“ aktuell inflationär gebraucht, vor allem im Zusammenhang mit so genannten Verhaltenssüchten, die in den Medien ein viel beachtetes Thema sind. Tatsächlich ist zu beobachten, dass immer mehr Menschen ihr Verhalten nicht mehr im Griff haben. Sie zeigen ein unkontrolliertes Verhalten, das in Extremfällen wie eine Sucht die Gesundheit schädigt oder schwer wiegende soziale Folgen hat.
Doch der Übergang von „noch normal“ zu „bereits süchtig“ ist fließend und bisher nicht klar definiert. Die so genannten „Verhaltenssüchte“ sind bisher wissenschaftlich umstritten, das Ursache Wirkungsgefüge ist wenig erforscht. Die Frage ist, ob es sich tatsächlich um Störungen mit Krankheitswert handelt. Um der Gefahr der Beliebigkeit des Suchtbegriffs entgegenzuwirken, ist es notwendig, auch im Zusammenhang mit nicht- substanzgebundenen Süchten eine klare Grenze zu ziehen. Sucht ist etwas anderes als eine schlechte Gewohnheit oder Problemverhalten, die noch der willentlichen Kontrolle unterliegen.
Zunehmendes Problemverhalten lässt sich bei ganz verschiedenen Tätigkeiten beobachten, nicht nur im Umgang mit Essen und Glücksspielen, für die es bereits bewährte Beratungs- und Hilfeangebote gibt. Aktuell gibt es immer mehr Menschen, die grenzenlos arbeiten, einkaufen oder Sport treiben. Am auffälligsten allerdings ist die Zunahme von Problemverhalten im Umgang mit Medien wie Computer, Internet oder Fernsehen. Der Deutsche Bundestag hat im April 2008 eine Expertenanhörung zu diesem Thema durchgeführt. Demnach gibt es bisher keine verlässlichen Prävalenz- oder Behandlungsdaten. Experten vermuten, dass in Deutschland 1-2 Millionen Menschen onlinesüchtig sind. Als „süchtig“ gilt jemand, der in seiner Freizeit mehr als 35 Stunden in der Woche „online“ ist. Bei einem Teil der intensiven Mediennutzer treten behandlungsrelevante Probleme auf.
Bei der aktuellen Drogentrendstudie 2008 wurden im Rahmen der Schülerbreitenbefragung 15-18-jährige Frankfurter Schülerinnen und Schüler erstmals auch zu ihrem Medienkonsum befragt.

Viele Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit mit der Nutzung von Bildschirmmedien:
Durchschnittlich sitzen die 15-18-Jährigen in Frankfurt 26,2 Stunden pro Woche vor Bildschirmen. Die Werte zeigen hier eine sehr hohe Streuung: 20% bleiben insgesamt unter 10 Stunden wöchentlich und ebenfalls 20% verbringen mehr als 40 Stunden an Bildschirmen, eine Zeitspanne, die einer  Vollzeitstelle mit Überstunden entspricht.
Dabei sehen sie im Durchschnitt 10,4 Stunden Fern, verbringen  10,5 Stunden mit dem Internet und spielen außerdem 5,6 Stunden wöchentlich ein Computerspiel (PC oder Konsole).
Interessant ist, dass das Fernsehen immer noch eine sehr wichtige Rolle spielt.

Für junge Männer scheint die Verlockung besonders groß zu sein, die Freizeit in virtuellen Welten zu verbringen. Die Unterschiede sind bei den Computerspielen am gößten: Etwa doppeltso viele junge Männer wie junge Frauen spielen mindestens einmal im Monat Computerspiele. Wissenschaftler vermuten, dass das zunehmende Zurückfallen der schulischen Leistungen von Jungen gegenüber Mädchen mit dieser höheren Mediennutzungsdauer im Zusammenhang steht.
Übermäßiger Medienkonsum ist allerdings keinesfalls nur ein Problem von Kindern und Jugendlichen und es handelt sich nicht nur um Personen, die Defizite aus anderen Lebensbereichen kompensieren, häufig sind es auch gut ausgebildete Heranwachsende oder Erwachsene, die sich den Konsum von Computerspielen, Internet oder Chatforen nicht einteilen können bzw. nicht damit aufhören können.
Problematischer Medienkonsum kann zu massiven Veränderungen der Schlafgewohnheiten, abfallenden Leistungen in der Schule, sozialem Rückzug und Desinteresse an anderen Freizeitaktivitäten führen.
Lehrkräfte, Erzieherinnen und alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sollten heute über Medienkompetenz verfügen. Kitas und Schulen sind die geeigneten Orte, an denen Kinder und Jugendliche auch die Chancen und kreativen Nutzungsmöglichkeiten der neuen Medien kennen lernen können. So kann Schule auch als Lernort für Heranwachsende wieder attraktiver werden. Schulen und Kitas können auch Orte sein, die Eltern informieren und pädagogisch unterstützen. Der weitere Ausbau der Ganztagsschulen bietet die Chance, Kinder und Jugendliche nachmittags auch im Bereich „Umgang mit Medien“ zu betreuen